Das Apfelsinen-Ritual

Als ich noch Kind war brachte mein Vater in der Adventszeit immer eine Kiste Apfelsinen mit. Die Kollegen auf seiner Arbeitsstelle haben wohl zusammen eine Großbestellung aufgegeben. Er sagte zumindest, er brächte sie von der Arbeit mit. Wo sie tatsächlich her gekommen sind, das frage ich mich erst heute.

Auf jeden Fall waren die Apfelsinen ein besonderes Adventsritual. Am Abend holte mein Vater aus der Kiste für jeden eine Apfelsine, legte sich sein Taschenmesser bereit, einen Teller für die Schalen und für jede Apfelsine einen weiteren. Dann setzte er sich gemütlich auf einen Küchenstuhl, legte sich sein großes Herrentaschentuch auf den Schoß (die Hose musste vor eventuellen Spritzern geschont werden) und begann genussvoll eine Apfelsine zu schälen.

Schon mit dem ersten Schnitt in die Apfelsinenschale breitete sich ein wundervoller Geruch im gesamten Raum aus.

Mein Vater schälte die Apfelsinen in Ringen. Nachdem die erste Schicht Schale abgeschält war, begann er mit großer Sorgfalt das weiße Häutchen zu entfernen.

Wenn das erledigt war, teilte er die Apfelsine in Spalten und entfernte auch hier weiße Häutchen. Dann drapierte er die Spalten mit Bedacht auf die Teller.

Ich weiß, dass ich die gesamte Zeit mit meinen Blicken an seinen Händen hing. Mir lief zwar das Wasser im Mund zusammen, dennoch wäre ich nie auf die Idee gekommen, das „Kunstwerk“ vorzeitig durch essen zu zerstören. Erst wenn die letzte Apfelsine geschält, enthäutet, in Spalten zerlegt auf ihrem Teller lag und alle am Tisch saßen, dann wurde gegessen.

Ab und zu war unter den Apfelsinen eine „Blut-Orange“. Die wurde dann gerecht verteilt. Ich vermutete immer, dass sie wegen der wunderschönen roten Farbe besonders süß sei. Das stimmte aber meist nicht. Allgemein waren die Apfelsinen früher ziemlich sauer. Heutzutage sind sie viel süßer.

Eigentlich esse ich Apfelsinen nicht so gern. Aber an dieses Ritual erinnere ich mich gern. Und wenn ich daran denke, rieche ich die Apfelsinen und mir läuft wieder das Wasser im Mund zusammen.

Habt ihr auch so besondere Rituale in der Adventszeit, an die ihr euch gern erinnert?