Warum es sich lohnt nach dem Anfang zu suchen: Abhängigkeit

Süchte gibt es viele und viele sind so gar nicht als Sucht bekannt. Vielleicht erfüllen sie auch nicht alle Kriterien einer Sucht und sind so normal, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass so etwas von so was kommt.

Und doch laufen sie mir immer wieder über den Weg. Wie gesagt, vielleicht sind es nach der reinen Lehre auch keine Süchte. Nennen wir es Abhängigkeit. Wobei Sucht und Abhängigkeit Synonyme sind.

Gemäß Definition der WHO im ICD-10 existiert eine Abhängigkeit, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zutreffen:

  • Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang zu konsumieren.
  • Verminderte Kontrollfähigkeit in Bezug auf den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums.
  • Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums.
  • Nachweis einer Toleranz, im Sinne von erhöhten Dosen, die erforderlich sind, um die ursprüngliche durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen.
  • Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Konsums sowie ein erhöhter Zeitaufwand, um zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
  • Anhaltender Konsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen.

Da kann man sich schon die Frage stellen, sind es immer Stoffe, die in die Abhängigkeit treiben oder können es auch soziale Beziehungen sein.

Ist ein Mann oder eine Frau abhängig von seiner Partnerin oder von ihrem Partner, wenn er oder sie verrückte Sachen ausführt um zu gefallen oder nicht allein zu sein?

Wo ist die Schwelle zwischen einer „normalen“ Beziehung, auch unter Freunden und Freundinnen, zu einer Abhängigkeit? Wann endet Liebe und Freundschaft und wo beginnt die Abhängigkeit?

Jeder von uns wird sicher schon einmal erlebt haben, dass er mehr in eine Beziehung einbringt als er zurückbekommt. In einer gesunden Beziehung werden sich Geben und Nehmen in einem ausgewogenen Verhältnis befinden. Und doch gibt es Ausnahmesituationen, in denen die Waagschale sich auf einer Seite neigt. Wohlgemerkt Ausnahmesituationen, die beginnen und wieder enden und nicht eine lange Zeit andauern. Das kann eine besondere Belastung sein, wie Studium, Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Trauer uvm. Alles hat irgendwann ein Ende. Bei einer Krankheit kann es allerdings schwierig sein, wenn sie chronisch oder unheilbar ist.

Wird aus einer  Ausnahmesituation ein Dauerzustand, dann kann der Partner in eine Abhängigkeit geraten. Vielleicht ist der oder die Betroffene zunächst nicht abgeneigt mehr einzubringen. Vielleicht wird es zur Gewohnheit und beide Partner verändern sich. Der eine in den, der immer fordert und der andere, in den, der immer bereit ist zu leisten. Vielleicht, weil es ihm viel „besser“ geht, so als latentes Schuldgefühl, wo es gar keine Schuld gib, oder als falsch verstandenes „Mitleiden“, wobei das besser durch „Mitempfinden“ ersetzt werden sollte.

Warum aber wird der eine zum Despot und der andere zu einem Getretenen? Meines Erachtens stecken ähnliche Ursachen dahinter. Wenn man ein bisschen zurückschaut, werden Gemeinsamkeiten in der Kindheit und Jugendzeit aufgedeckt.

Betroffene berichten sehr häufig von folgenden Erfahrungen:

  • Sie wurden als Kind fast nie gelobt sondern kritisiert, bestraft oder sogar geschlagen.
  • Ihnen wurde das Gefühl vermittelt, nicht „richtig“ zu sein, weil ihnen immer wieder gesagt wurde, wie sie „richtig“ zu sein hätten.
  • Dadurch versuchten sie sich anzupassen, um Ärger zu vermeiden.
  • Einige wuchsen in Verhältnissen auf, in denen es kein oder kaum Interesse der Eltern an ihnen gab. Es gab zwar keine Kritik oder Strafe, aber auch keine Zuwendung. Dies ist häufig in den sogenannten besseren oder gut situierten Kreisen der Fall.
  • Es gibt auch Betroffene, die als Kind Opfer von Missbrauch wurden. Die Sucht ist in diesen Fällen oft der Versuch, Scham und Schuldgefühle zu bekämpfen.

Die Ursachen für Sucht und Abhängigkeit sind fast immer in einem Mangel an Liebe, Zuwendung und emotionaler Bindung zu suchen ist. Dieser Mangel entsteht in einer Lebensphase, in der emotionale Wärme besonders wichtig ist, in der Kindheit oder Jugend. Oft werden diese Erlebnisse bis weit ins Erwachsenenalter mit sich herumgetragen und verursachen Leid beim Betroffenen und denen, die diese lieben.

Wichtig ist es für Betroffene drei Fähigkeiten zu erlernen:

  • ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstsicherheit zu stärken
  • soziale und kommunikative Kompetenzen aufzubauen:
    Dazu gehört die Fähigkeit zu erkennen, was die anderen Menschen bewegt, wie sie sich fühlen, Konflikte zu schlichten und zu lösen, und die eigenen Bedürfnisse unterzuordnen.
  • einen Sinn im Leben zu finden und das Leben intensiv zu spüren, seine Höhen und auch seine Tiefen und diese in Dankbarkeit anzunehmen.

Gegen emotionale Armut

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Am letzen Freitag versprach ich Ihnen ein Präventionsprogramm um emotionale Armut zu verhindern. Ich möchte Ihnen hier die Zutaten zu einem erfolgreichen Programm vorstellen. Egal ob im Kindergartenalter, in der Schule oder allgemein im täglichen Leben, je mehr Zutaten bekannt sind und gebraucht werden, desto friedlicher, weltoffener und zufriedener werden die Menschen werden.

Wer einen guten Kuchen backen will, muss bekanntlich sieben Sachen haben. Für ein erfolgreiches Programm gegen die emotionale Armut brauchen wie nur drei wichtige Säulen: die emotionale Fähigkeit, Gefühle zu erkennen und zu benennen, die kognitive Fähigkeit, den Problemen des Lebens positiv und mit dem Willen sie zu lösen gegenüber zu treten und die kommunikative Fähigkeit, nonverbal Zeichen zu erkennen und verbal seine Vorstellung klar zu formulieren, zu zuhören und Kompromisse schließen zu können.

Hört sich eigentlich ganz einfach an, nur wo lernen wir das?

Wer viel Glück hat, erlernt die Fähigkeiten bereits in der Ursprungsfamilie. In vielen Familien wird aber kein Wert darauf gelegt, dass aufkeimende Gefühle erkannt, benannt und ernst genommen werden. Ist ein Junge weinerlich, folgt der Spruch: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Mädchen dürfen zwar weinen, müssen aber „lieb“ sein und sich nicht wehren. Bevor Kinder ihre Gefühle richtig wahrnehmen, werden sie durch übergestülpte gesellschaftliche Normen reglementiert. Es wird erwartet, dass die Gefühle totgeschwiegen werden und man funktionieren muss. Wer sich selbst nicht versteht, wie soll der die Regungen und Gefühle anderer verstehen?

Wer schon nicht die eigenen Gefühle erkennt, der ist wahrscheinlich auch nicht in der Lage die Heftigkeit eines Gefühls einzuschätzen. Wenn ein Kind so richtig zornig wird, dann kann es schon einmal vorkommen, dass es dem anderen Kind einen Gegenstand über den Kopf zieht. Wenn dann Eltern nicht erklären, welche Schmerzen es dem anderen zugefügt hat, dann empfindet es kein Gefühl für sein Gegenüber und wird beim nächsten Mal wieder impulsiv und hart zuschlagen. Wenn die überzogene Handlung erkannt werden kann, kann auch eine angemessene erfolgen.

Am 28.10. habe ich mit der Biologie der Empathie beschrieben, wie anhand von Gesichtsausdrücken viele Menschen nachempfinden können, was ein anderer Mensch empfindet. Und das dies für unser friedliches Zusammenleben sehr wichtig ist. Allein an der Körperhaltung und am Blick können wir erkennen, ob ein Mensch aggressiv, devot oder selbstbewusst reagieren wird. Kann ich mich in einen anderen hineinversetzen, kann ich auch Lösungen finden, die für beide passen.

Ein erfolgreiches Präventionsprogramm könnte z.B. beinhalten:

  • Zum Beginn eines Tages abfragen, wie die Gefühlslage der Teilnehmer ist.
  • Emotionale Probleme thematisieren und gemeinsam nach Lösungen suchen. Viele Fragen stellen und sich in die Gemütslage des Berichtenden hineinversetzen.
  • Diskutieren lernen mit dialektischer Erörterung: These, Antithese, Synthese
    So wird erlernt zu einem Thema auch die Gegenargumente zu sammeln, zu verstehen und These und Antithese zu einer sinnvollen Synthese zusammen zu führen.
  • In Projekten die Kooperation stärken. Wenn alle unterschiedlichen, vorhandenen Fähigkeiten eingebracht werden, kommt man schneller zu einem besseren Ergebnis.
  • Lernen Kritik so anzubringen, dass sie nicht beleidigend oder herabwürdigend ist, sondern zu einem besseren Verständnis führt. Es hilft dabei den eigenen Standpunkt als „Ich“-Botschaft auszusprechen. Ich sehe… Ich empfinde… Ich fühle…
    Keine direkten Anschuldigungen oder aggressive Schlussfolgerungen ziehen, die es dem Anderen schwer machen Botschaften auf- und anzunehmen.
  • Beim Gespräch Blickkontakt aufnehmen, auf Körperhaltungen und Gesichtsausdruck achten.
  • Während des Tages immer wieder stressabbauende Tätigkeiten einfügen wie körperliche Bewegung, Entspannungstechniken wie Meditation, geführte Phantasiereisen, etc.
  • Den Tag beschließen, dass jeder seine Sorgen des Tages berichten und bewerten darf. Gemeinsam können kreative Wege besprochen und gefunden werden.
    Auf diesem Weg kann die Erkenntnis reifen, welches Gefühl hinter Verletzungen und Wut steckt und wie man mit Ängsten und Traurigkeit umgeht. So wird die Selbstverantwortung geschult, dass jeder Verantwortung für seine Entscheidungen übernehmen muss und Verpflichtungen eingehalten werden müssen.

Dieses oder ähnliche Programme führen zu mehr

  • Selbstsicherheit
  • Selbstbeherrschung
  • Rücksichtnahme (auch auf Schwächere)
  • Hilfsbereitschaft
  • Konfliktlösungsfähigkeit
  • Anteilnahme
  • Verantwortungsbewusstsein
  • Offenheit

In den USA gibt es seit einigen Jahren Schulen, die mit großem Erfolg die Lebenskunst-Schulungen (Self Science) anbieten.

Auch in deutschen Kindertagesstätten, Schulen, Universitäten werden vermehrt Schulungen der sozialen und emotionalen Kompetenz vorangetrieben. Argumente dafür sind u.a.( Quelle: Bildung von sozialen Kompetenzen in der Schule, Gisela Steins, Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Bildungswissenschaften, 2014)

„Soziale Kompetenzen stehen heute nicht mehr im Mittelpunkt der Erziehung; Disziplin bzw. die damit verbundenen Fähigkeiten sind out. Das bedeutet: Man kann nicht erwarten, dass Kinder bereit sind, diese Investition von sich aus zu tätigen.“

„Wir tun gut daran, diese Kulturtechniken weiterzugeben, denn von ihnen hängt ganz entscheidend die Zukunft unserer Gesellschaft ab. Viele negative Ereignisse der Menschheits-geschichte wären anders verlaufen, hätten die Beteiligten fundierte Kenntnisse und Fähigkeiten eines angemesseneren Umgangs miteinander zur Verfügung gehabt.“